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Meinungsfreiheit vs. Persönlichkeitsrecht in den sozialen Medien: Politikerin Renate Künast siegt vor Bundesverfassungsgericht

Am 30.06.2022 feiern wir den alljährlichen World Social Media Day. Mit der Einführung des Feiertags wird die Wirkung von Social Media Plattformen auf die weltweite Kommunikation der Menschen honoriert, und das nicht ohne Grund.

Heutzutage nutzt fast jeder Mensch auf der Welt die Internetplattformen, um sich mit anderen zu vernetzen und auszutauschen – seien es Freunde, Familie oder auch völlig fremde Personen, die wir im Internet treffen. Die sozialen Medien erleichtern unseren Alltag, eröffnen aber auch mit neuen Berufsausrichtungen bisher unbekannte Perspektiven für die Zukunft.

 

Besonders beliebt ist die Kommentarfunktion unter einem Beitrag in den Plattformen wie Facebook, Instagram oder Twitter, in denen die Nutzer Kommentare hinterlassen können. Dieser Kommentar kann jeglicher Art – schriftlich oder bildlich – sein. Je bekannter eine Person im öffentlichen Raum ist, desto mehr Kommentare werden bezüglich dieser Person unter diversen Fotos und Videos hinterlassen. So erging es auch der deutschen Politikerin Renate Künast, die der Partei Bündnis 90/Die Grünen angehört, als die Debatte über vermeintliche Aussagen ihrerseits in der Öffentlichkeit entfachte.

 

Was ist geschehen?

Auf einem Internetblog veröffentlichte dessen Inhaber Ende Oktober 2016 das Bild der Politikerin mit folgendem Text, der nur scheinbar ein Zitat Künasts ist: „Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist, ist der Sex mit Kindern doch ganz ok. Ist mal gut jetzt.“

Dieser Beitrag bezog sich auf die im Jahr 2015 erneut aufgekommene Debatte bezüglich der Haltung der Partei Die Grünen zur Pädophilie in den 1980er Jahren. Thema im Abgeordnetenhaus im Mai 1986 war unter anderem häusliche Gewalt. Als es um die Frage ging, wie die Rednerin, die ebenfalls den Grünen angehörte, zu einem Beschluss der Partei in Nordrhein-Westfalen stehe, wonach die Strafandrohung wegen sexueller Handlungen an Kindern aufgehoben werden solle, soll Künast das oben genannte Zitat gerufen haben.

Nachdem die Politikerin den Bloginhaber auf Unterlassung in Anspruch nahm, berichtete er Anfang 2019 auf seiner Facebook-Seite darüber. Im April und Mai 2019 reagierten zahlreiche Facebooknutzer darauf und kommentierten ihrerseits mit diversen zugespitzten und teilweise sexistischen Beleidigungen.

 

Rechtliche Einordnung

Betroffene können nach dem Gesetz über den Datenschutz und den Schutz der Privatsphäre in der Telekommunikation und bei Telemedien (kurz TTDSG) Auskunft über die Bestandsdaten von Social Media Plattformen erhalten, soweit dies der Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche wegen ihrer Verletzung absolut geschützter Rechte aufgrund rechtswidriger Inhalte, die vom noch immer umstrittenen Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) erfasst werden, dient. Dafür muss der oder die Betroffene zuvor eine gerichtliche Anordnung eingeholt haben.

Rechtswidriger Inhalt im Sinne des § 1 Abs. 3 NetzDG ist unter anderem auch die Beleidigung im strafrechtlichen Sinne. Betroffene einer solchen Äußerung in einem Post oder einem Kommentar können daher eine gerichtliche Anordnung anstreben. Hierfür prüft das Gericht, ob die Beleidigung tatsächlich den strafrechtlichen Rahmen erfüllt.

 

Künast beantragte bei den Gerichten in Berlin die Gestattung der Auskunftserteilung über die Bestandsdaten dieser Facebooknutzer, um gerichtlich gegen diese Personen vorgehen zu können. Die Gerichte wiesen den Antrag jedoch zurück mit der Begründung, dass es sich bei den Reaktionen der Facebooknutzer um zulässige Meinungsäußerungen handele. Letztlich wurden nur 12 von insgesamt 22 Kommentaren als Beleidigung im strafrechtlichen Sinne eingestuft. Die Politikerin selbst habe sich zu einer die Öffentlichkeit in erheblichem Maße berührenden Frage geäußert und damit Widerstand aus der Bevölkerung provoziert. Da die Kommentare einen Sachbezug hätten, stellten sie keine Diffamierungen der Person Künasts und damit keine Beleidigungen nach § 185 StGB dar. Die Feststellung des Straftatbestands ist aber erforderlich für die Erteilung der gerichtlichen Anordnung. Zuletzt argumentierten die Gerichte, dass Künast als Person des öffentlichen Lebens solche Angriffe im öffentlichen Meinungskampf hinzunehmen habe.

 

Verfassungsrechtliche Entscheidung

Mit der Verfassungsbeschwerde rügte Künast unter anderem die Verletzung ihres Persönlichkeitsrechts. Nun hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 19. Dezember 2021 (Az.: 1 BvR 1073/20) zugunsten der Politikerin entschieden und die vorinstanzlichen Entscheidungen aufgehoben.

 

Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts haben die vorinstanzlichen Gerichte die Gewichtung des Persönlichkeitsrechts Künasts gegenüber der Meinungsfreiheit der Facebooknutzer fehlerhaft abgewogen. Die Gerichte haben angenommen, dass für die Erfüllung des Straftatbestands der Beleidigung das Vorliegen der Schmähkritik erforderlich sei. Die Schmähkritik stellt aber ein Sonderfall der Beleidigung dar. Eine einfache Beleidigung im strafrechtlichen Sinne kann auch dann vorliegen, wenn die Persönlichkeitsverletzung des Betroffenen der Meinungsfreiheit überwiegt. Aufgrund dieser Fehleinschätzung haben die Gerichte sich nicht mit der Abwägung der Gesichtspunkte des Einzelfalls auseinandergesetzt, was zu einer Verletzung des Persönlichkeitsrechtes Künasts führt.

 

Maßstab an der Abwägung

Das Bundesverfassungsgericht stellte darauf ab, dass mit der Sinnermittlung der jeweiligen Äußerung eine abwägende Gewichtung der Beeinträchtigungen, die den betroffenen Rechtsgütern und Interessen drohen, vorgenommen werden muss. Eine Ausnahme gilt bei der Schmähung oder Verächtlichmachung einer Person. In diesen Fällen wird eine vorherige Auseinandersetzung erkennbar nur äußerlich zum Anlass genommen, um über andere Personen herzuziehen oder sie niederzumachen, etwa im Falle einer Privatfehde.

Aber insbesondere in Kommentarspalten können derartige Äußerungen ohne Bezug zu einer solchen Fehde auftreten. So können sie persönlich nicht bekannte, auch im öffentlichen Leben stehende Personen betreffen, die im Schutz der Anonymität des Internets ohne jeden nachvollziehbaren Bezug zu einer Sachkritik grundlos aus verwerflichen Motiven wie Hass- oder Wutgefühlen heraus verunglimpft und verächtlich gemacht werden.

 

Demgegenüber genießen Bürger*innen gerade den besonderen Schutz der Machtkritik. So können sie Amtstäger*innen für deren Art und Weise der Machtausübung angreifen, ohne befürchten zu müssen, dass personenbezogene Aspekte solcher Äußerungen aus diesem Kontext herausgelöst werden und die Grundlage für einschneidende gerichtliche Sanktionen bilden. Es ist daher wichtig für die Abwägung, ob die Privatsphäre der Betroffenen oder ihr öffentliches Wirken mit seinen gesellschaftlichen Folgen Gegenstand der Äußerung ist und welche Rückwirkung auf die persönliche Integrität der Betroffenen von dieser Äußerung ausgehen können.

Auch auf europäischer Ebene wurde die Grenze der Meinungsfreiheit gegenüber Personen des politischen Lebens im Hinblick auf Art. 10 Abs. 2 EMRK diskutiert. So betont der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Rechtsprechung, dass die Grenzen zulässiger Kritik an Politiker*innen weiterzuziehen sind als bei Privatpersonen. Zugleich erlaubt die Machtkritik nicht jede auch ins Persönliche gehende Beschimpfung von Amtsträger*innen, die durch die Verfassung dennoch Schutz genießen. Äußerungen jedweder Art sind desto weniger schutzwürdig, je mehr sie sich von einem Meinungskampf in die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Fragen wegbewegen und die Herabwürdigung der betreffenden Personen in den Vordergrund tritt. Welche Äußerungen sich Personen des öffentlichen Lebens gefallen lassen müssen und welche nicht, liegt dabei nicht nur an Art und Umständen der Äußerung, sondern auch daran, welche Positionen sie innehaben und welche öffentliche Aufmerksamkeit sie für sich beanspruchen.

 

Das Gericht sieht insbesondere unter den Bedingungen der Verbreitung von Informationen durch soziale Netzwerke im Internet einen wirksamen Schutz der Persönlichkeitsrechte von Politiker*innen im öffentlichen Interesse, was das Gewicht dieser Rechte in der Abwägung verstärken kann. Denn eine Bereitschaft zur Mitwirkung in Staat und Gesellschaft kann nur erwartet werden, wenn für diejenigen, die sich engagieren und öffentlich einbringen, ein hinreichender Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte gewährleistet ist.

Nach den konkreten Umständen kann vor allem erheblich sein, ob die Meinungsäußerung ad hoc in einer hitzigen Situation oder im Gegenteil mit längerem Vorbedacht gefallen ist. Während bei einer mündlichen Äußerung im Rahmen der Zumutbarkeit Emotionalität und Erregbarkeit des sich Äußernden zugesprochen werden kann, erwartet das Gericht bei schriftlichen Äußerungen im Allgemeinen ein höheres Maß an Bedacht und Zurückhaltung. Dies gilt grundsätzlich auch für textliche Äußerungen in den sozialen Netzwerken im Internet.

 

Das Kammergericht Berlin muss nun erneut über die Sache entscheiden, soweit die Entscheidungen zum Nachteil Künasts ergangen sind.

 

Fazit

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist von hoher Bedeutung, da sie sich erstmals mit dem rechtlichen Rahmen der Kommentarspalten im Internet befasst.

Beleidigungen begleiten unseren Alltag, sie stellen einen negativen Aspekt der weltweit einfachen Kommunikation durch Social Media dar. Dennoch ist Social Media kein straffreier Raum. Die Strafbarkeit der Beleidigung im deutschen Gesetz dient dem Schutz der Ehre des Betroffenen. So sind explizit auch Personen des politischen Lebens in Deutschland geschützt, damit sie nachhaltig ihren Beitrag in der öffentlichen Arbeit leisten können.

Es sind aber hohe Hürden an die Strafbarkeit gestellt, die sich jeweils im Einzelfall stellen, denn die Meinungsfreiheit des Einzelnen darf nicht unverhältnismäßig begrenzt sein. Aussagen, die scheinbar eine Beleidigung sind, können sich als eine zugespitzte, aber dennoch zulässige Meinungsäußerung herausstellen. Mit der Entwicklung der Online-Kommunikation kommen immer mehr rechtliche Fragen auf, insbesondere zu dem Thema Hasskommentaren und Hetze sowie Verbreitung von Fake News und Verschwörungstheorien, die seit Beginn der Covid19-Pandemie und den mit ihr einhergehenden Einschränkungen drastisch zugenommen haben.

Mit der Entscheidung des Gerichts gewinnen Betroffene sowie der öffentliche Dienst mehr Sicherheit im Umgang mit Social Media, auch wenn dieser noch ausbaufähig ist. Denn trotz der noch offenen Baustellen bieten die Plattformen ein großes Potenzial für den offenen Austausch und eine Verknüpfung zwischen den Menschen weltweit.

Virginia Bagirian